Articolo della Stampa svizzera (Testata sconosciuta) 23.12.1999
Camillerimania — Ein Sizilianer macht Furore
Seit Andrea Camilleri 1998 erstmals in den italienischen Bestsellerlisten
auftauchte, ist er dort Dauergast. Dabei ist der Sizilianer kein
Senkrechtstarter. Als 1978 sein erstes Buch ”Der Lauf der Dinge” erschien,
war der Autor bereits 53jährig. Er war auch ziemlich skeptisch im Hinblick auf
eine Karriere als Schriftsteller: Sein Erstling war von 14 Verlegern abgelehnt
worden bevor Leonardo Sciascia, Siziliens bekanntester Schriftsteller und Doyen
des literarischen Lebens der Insel, das Manuskript in die Hände kriegte. Er
empfahl es der Verlegerin Elvira Sellerio, die in Palermo einen anspruchsvollen
literarischen Verlag leitet. Sie brachte das Buch heraus; ein Erfolg wurde es
nicht, so wenig wie Camilleris folgende Romane.
Der Commissario tritt auf
Andrea Camilleri ist ein Phänomen. Niemand (auch nicht der Autor, wie dieser
amüsiert einräumt), weiss wirklich, weshalb die Verkaufszahlen plötzlich in
die Hunderttausende gehen. Mundpropaganda, heisst es, habe das Mirakel
vollbracht. Schleierhaft ist auch, weshalb der Erfolg ausgerechnet 1998
einsetzte. Fest steht, dass Camilleris Notorietät mit seiner Erfindung des
Commissario Salvo Montalbano zusammenhängt. Dieser bärbeissige,
eigenbrötlerische, feinschmeckerische, belesene Kommissar ist erstmals 1994 in
”Die Form des Wassers” aufgetreten. Nach drei weiteren Romanen und zwei
Erzählungsbänden verfügt Salvo Montalbano heute in Italien über eine
glühende Fan-Gemeinde. Diese unterhält eine weitläufige Homepage
(www.angelfire.com/pa/camilleri), die auch alle Rezepte der Menus anführt, die
die Haushälterin dem Commissario zubereitet. A propos Kochen: In Barcelona lebt
ein Detektiv, der ebenfalls eine Schwäche fürs Essen hat. Sein Schöpfer ist
der Schriftsteller Manuel Vázquez Montalbán. Dass Camilleri seinen Helden
Montalbano nennt, ist eine Hommage an den spanischen Kollegen.
Was die Verkaufszahlen betrifft, setzt Camilleri neue Massstäbe in Italien. Der
Gesamtumsatz seiner Bücher bewegt sich inzwischen auf die 3-Millionen-Grenze zu
— und das in einem Land, das punkto Lesefreude das europäische Schlusslicht
ist. Man hat sich inzwischen daran gewöhnt, dass auf den italienischen
Bestsellerlisten Woche für Woche der Name Camilleri gleich mehrmals auftaucht.
Im Juli 1998 okkupierten acht Camilleri-Titel die zehn Plätze der ”La Stampa”-Bestenliste.
In jeder Buchhandlung, selbst in jenen armseligen Cartolerie auf dem Land, die
neben Schulheften, Strickmustern und
Glückwunschkarten auch ein paar Bücher feilbieten, liegen Camilleris Bücher
auf, meist stapelweise.
Des Commissarios ersten beiden Fälle ”Die Form des Wassers” und ”Der Hund
aus Terracotta” (1996) liegen jetzt auf deutsch vor, weitere sind angekündigt.
Wie so oft bei Kriminalromanen ist auch bei Camilleri die Intrige nicht das
Wesentliche. In ”Die Form des Wassers” dreht sie sich um den plötzlichen
Tod eines Bauunternehmers, den Montalbanos Vorgesetzte am liebsten ad acta legen
würden. Dem Commissario aber erscheinen die Umstände des Ablebens dermassen
suspekt, dass er eine Untersuchung einleitet, die dann erwartungsgemäss den
üblichen Sumpf von Geldgier, politischen Intrigen, Doppelmoral, Machtkämpfen
an den Tag bringt. Camilleri legt in diesem ersten Fall jene Konstanten an, die
dem Leser der folgenden Montalbano-Krimis das angenehme Gefühl des Vertrauten
vermitteln, den Eindruck, einem Bekannten zu begegnen. So sind alle Krimis an
der Südküste Siziliens angesiedelt, in einer kleinen Hafenstadt namens Vigàta,
der Camilleris Geburtsort Porto Empedocle als Modell dient. Der Leser lernt auch
Livia kennen, die Verlobte im weit entfernten Genua, mit der der Commissario
hauptsächlich telefonisch verkehrt. Er macht auch Bekanntschaft mit Gègè,
Montalbanos Jugendfreund, der nicht immer ganz legalen Geschäften nachgeht. Und
man lernt Montalbanos Eigenheiten kennen, etwa, dass er gern liest; dass er
kleine Fische auch mal laufen lässt (während er sich in grosskalibrige
Übeltäter rottweilerartig verbeisst); dass er sein Privatleben so sehr
schätzt, dass er sich rabiat gegen eine Beförderung wehrt; dass ihn die Gattin
seines Vorgesetzten oft zum Essen einlädt, weil der Commissario ihre
Kochkünste zu würdigen versteht.
Kniffligkeiten der Sprache
Montalbanos zweiter Fall ”Der Hund aus Terracotta” ist interessanter, weil
hier eine geschichtliche Dimension dazukommt. Der Plot dreht sich um ein junges
Paar, das tot in einer Höhle gefunden wird. Laut Gerichtsmediziner sind die
beiden vor Jahrzehnten auf unnatürliche Weise ums Leben gekommen. Montalbanos
Untersuchung führt zurück ins Jahr 1943, als die Alliierten auf Sizilien
landeten. Bei der Lösung des kriminalistischen Rätsels entsteht ein
atmosphärisch dichtes Bild jener Zeit der Gesetzlosigkeit und Anarchie in
Sizilien. Camilleri ist ein Kenner der Geschichte, insbesondere jener Siziliens.
Seine Nicht-Krimis sind alle im Sizilien des 19. Jahrhunderts angesiedelt.
Ausgehend von authentischen Begebenheiten erzählt Camilleri Geschichten aus
einer Zeit, in der, wie er sagt, so vieles, was heute in Sizilien schief läuft,
seinen Ursprung hat. Es überrascht nicht, dass er mit diesen Romanen nicht zum
Erfolgsautor wurde. Doch jetzt, wo jede Camilleri-Zeile Gold wert ist, erleben
auch diese historisch inspirierten Romane Riesenauflagen. Ein erster liegt seit
kurzem auf deutsch vor, unter dem
zweideutigen Titel ”Der unschickliche Antrag” (1998) und mit einer nackten
Frau auf dem Umschlag, ein marktschreierisches Manöver, das man von einem
Verlag wie Wagenbach nicht erwartet. Diese formal einfallsreiche Satire kommt
gänzlich ohne Beschreibungen aus. Mittels Briefen und Dialogen werden die
Folgen eines Antrags auf einen Telefonanschluss im Sizilien der Belle Epoque
aufgerollt. Die Mechanik der Bürokratie wird dabei ebenso karikiert wie
mafioses Agieren modellhaft gezeigt.
Bevor Camilleri in Rente ging, war er Regisseur und Drehbuchautor beim Fernsehen.
Vielleicht kommt daher sein Sprachbewusstsein und sein gutes Ohr für Dialoge.
Der Übersetzer Moshe Kahn versucht in ”Der unschickliche Antrag”,
dem deutschen Leser eine Vorstellung von der Sprachmusik des Originals zu
vermitteln. Camilleri verwendet nämlich in all seinen Büchern neben der
italienischen Hochsprache auch das Sizilianische (eine Sprache, kein Dialekt)
und Brocken südsizilianischen Dialekts. Das überfordert auch Leser in Italien,
die die Bedeutung der sizilianischen Einsprengsel aus dem Kontext erraten
müssen. Dem Roman ”Un filo di fumo” (1980) hat Camilleri auf Wunsch des
Verlegers ein Glossar beigegeben. Viele der lexikalischen Kniffligkeiten bei
Camilleri werden übrigens auf der erwähnten Homepage erläutert. Was aber
macht der deutsche Übersetzer? Würde er das Sizilianische mit Berlinerisch
oder Berndeutsch widergeben, entstünde eine atmosphärisch unpassende Stillage.
In den beiden vorliegenden Montalbano-Krimis sind diese unterschiedlichen
Sprachen stillschweigend eingeebnet worden. Moshe Kahn findet für die
schwülstige Bürokratensprache eine überzeugende deutsche Entsprechung.
Dass die Camillerimania demnächst auf das deutsche Sprachgebiet übergreifen
wird, ist nicht ausgeschlossen. Auch deshalb, weil die deutschen Sender ZDF, SAT
1 und PRO 7 mit dem italienischen Fernsehkanal Raidue verhandeln, der kürzlich
die ersten zwei von vier Fensehfilmen mit dem Commissario Montalbano
ausgestrahlt hat. Wie Interviews zeigen, scheint Camilleri dank einer gewissen
altersbedingten Abgeklärtheit seinen Ruhm ganz gut zu ertragen. Allerdings
machen ihm bisweilen seine Fans zu schaffen. Er berichtet, wie nach einer Lesung
drei gesetzte Herren auf ihn zugekommen seien, ihn am Jacket genommen und
beschwörend gesagt hätten: ”Hören Sie Camilleri, die Heirat von Montalbano
mit der Frau aus Genua lassen Sie besser sein. Es gibt hier bei uns in Sizilien
genug nette Mädchen.” Kann sich ein Schriftsteller ernsthaftere Leser und ein
schöneres Kompliment wünschen?
Andrea Camilleri: ”Die Form des Wassers”, aus dem Italienischen von
Schahrzad Assemi, Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1999, 247 S., Fr.
29.50; ”Der Hund aus Terracotta”, aus dem Italienischen von Christiane von
Bechtolsheim,
Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1999, Fr. 29.50; ”Der unschickliche
Antrag”, aus dem Italienischen von Moshe Kahn, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin
1999, Fr. 31.50, 277 S.
Georg Sütterlin