Süddeutsche Zeitung 01.07.2001
Der Esel, der Bischof und der zornige Genießer

Montalbano isst am liebsten allein. Jedes Gespräch lenkt vom Genuss einer fangfrischen Seebarbe oder in Olivenöl gebackenen Gamberetti ab. Allein das Wort „Arbeitsessen“ hält er für ein Sakrileg. Montalbano arbeitet als Kommissar auf Sizilien. Er gilt als einer der beliebtesten Polizisten der jüngeren Kriminalliteratur – und das nicht nur im heimischen Italien. „Die Idee mit dem Essen habe ich mir ausgeborgt“, erzählt Andrea Camilleri, der Vater vom Commissario Montalbano. „Ich habe die Idee von Massimo Bontempelli. Der hat eine kleine Erzählung geschrieben über einen Reisenden, der in ein merkwürdiges Dorf kam, wo es die Leute überall öffentlich miteinander trieben. Sie liebten sich im Stehen, in den Hauseingängen, auf der Straße. Als der Mann aber Hunger bekam und nach einer Trattoria fragte, hieß es nur: Psst, nicht so laut, essen? Das Essen war im Dorf obszön, nicht das Andere, und so führte man ihn heimlich an einen Ort, wo wenige Einzelne, jeder für sich, am Tisch saßen und still Gaumenfreuden genossen.“ Die Trattoria als Freudenhaus, Camilleri freut sich noch heute über diese Bontempelli-Idee, die er in seinen Krimibestsellern der Montalbano-Serie (auf Deutsch bei Lübbe) verarbeitet hat. Der Krimi als Vorwand Gutes Essen bereitet ebenfalls dem Autor Vergnügen, auch wenn er jetzt im Alter von 76 Jahren Diät halten sollte. Kochen kann er allerdings nicht, ganz und gar nicht. Im Gegensatz zu seinem katalanischen Kollegen Manuel Vázquez Montalbán – der Name des Commissario ist eine Hommage an den Freund. Wenn es jetzt dennoch bei Lübbe ein Rezeptbuch über die Küche des stillen Genießers Montalbano gibt, dann nur mit einem Vorwort von Camilleri – die Originalrezepte steuern Fachleute bei. Außerdem dürfe das Buch nicht in Italien erscheinen. „Ich will hier schließlich nicht noch als Kochbuchautor eingestuft werden, schlimm genug, dass man mich als reinen Krimischreiber abstempelt.“ Wer Andrea Camilleri so einordnen will, erntet nur böse Blicke des freundlichen älteren Herren mit den buschigen Augenbrauen, der eine Zigarette nach der anderen raucht. In der engen Arbeitskammer seiner römischen Wohnung breitet sich so schon am Vormittag – passend zum Thema – das Licht der blauen Stunde aus. Der Kriminalfall ist für Camilleri eigentlich nur ein Vorwand, um über seine sizilianische Heimat, die Menschen und die gesellschaftlichen Probleme Italiens zu schreiben. In dem Ort, in dem Montalbano dem Verbrechen nachspürt, ist Andrea Camilleri 1925 geboren. Auch wenn er in der Literatur Vigàta heißt, weiß doch jeder, dass es sich um Porto Empedocle in der Provinz Agrigent handelt, der Heimat auch von Luigi Pirandello, dem großen Vorbild. Dessen Jugend hat Camilleri gerade in einem Buch („Der vertauschte Sohn“) erzählt, das jetzt bei Wagenbach auf Deutsch erscheint. Neben der Krimiserie, die in der Gegenwart angesiedelt ist, hat der Schriftsteller in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von historischen Romanen veröffentlicht, die alle die Zeit kurz nach der Bildung des italienischen Einheitsstaates thematisieren. „Aber selbst unter der Folter würde ich niemals behaupten, dass die italienische Einheit dem Süden des Landes geschadet habe. Das Problem war die Art und Weise, wie sich diese Einheit vollzogen hat.“ Titel wie „Die Mühlen des Herren“ (Wagenbach), „Die sizilianische Oper“ oder „Jagdsaison“ (beide bei Piper) haben Camilleri besonders wegen ihrer leichten und immer spannenden Erzählweise zu einem interessanten Schriftsteller in der Nachfolge von Autoren wie Leonardo Sciascia gemacht. Sciascia selbst hatte kurz vor seinem Tod 1985 Camilleri in Kontakt mit der Verlegerin Elvira Sellerio in Palermo gebracht, die in den Neunziger die ersten Titel des spät berufenen Erfolgsautors verlegte. Denn Camilleri ist einer jener Fälle der Literaturgeschichte, die wie bei Fontane oder anderen den Rentner-Romancier hervorgebracht haben. Erst nach Abschluss einer Karriere als Theaterregisseur und Fernsehdramaturg hat ihn die Altersweisheit zum Schreiben gebracht – frühere Versuche blieben in der Schublade oder wurden von Verlegern nicht angenommen. Camilleri erzählt in Szenen, das Epische liegt ihm nicht; besonders die filmische Schnitttechnik hat er für sich entwickelt – sein Roman „Der unschickliche Antrag“ (Wagenbach) zum Beispiel ist eine raffinierte Abfolge von Dokumenten. Und eine eigene Sprache, die die sizilianische Eigenart widerspiegelt und zugleich allgemein verständlich ist. In Italien haben regionale und lokale Dialekte viel länger überlebt als zum Beispiel in Deutschland. Pirandello selbst hat darauf hingewiesen, dass die italienische Hochsprache bis in das 20. Jahrhundert eine Art Esperanto gewesen sei. Jeder dachte und sprach im Dialekt, erst wenn man in eine andere Sprachzone kam, benutzte man die Hochsprache, um sich verständlich zu machen. Der Reiz der Camilleri-Bücher liegt eben auch in dieser Kunstsprache, die gegen jede Globalisierung das Ursprüngliche betont. Und damit die Übersetzer vor Probleme stellt. Camilleri lobt im deutschen Sprachraum besonders den Berliner Moshe Khan. Er könne zwar nicht die Übersetzungen bewerten, „aber da kommen immer kilometerlange Faxe mit Fragen, mit Alternativen, mit Problemstellungen“. Von anderen Übersetzern höre er dagegen überhaupt nichts. „Ob die immer alles richtig verstanden haben?“ Krimiautoren werden oft sprachlich unterschätzt und von zweitklassigen Übersetzern bearbeitet. Auch deshalb wehrt sich Andrea Camilleri gegen den Krimi-Stempel. Gesellschaftsprobleme und Politik haben in seinem Leben immer eine Rolle gespielt. Kein Wunder, wenn man im Faschismus aufgewachsen ist und fünfzehn Jahre alt war, als Italien 1940 in den Krieg eintrat. „Natürlich war ich Faschist.“ Wie sein Vater, sein Großvater, sein Onkel, was soll man da anders denken? Allerdings gab es da irgendwie ein Missverständnis. Andrea dachte Faschismus sei, was er dachte. Und was er dachte, schrieb er in einer Schülerzeitung L’Asino (Der Esel), die er selbst mitbegründet hatte. Nach mehreren Ausgaben wurde er zum Bischof gerufen, der ihn freundlich zum Frühstück einlud und fragte, wo er denn die Ideen für seine Artikel her habe. „Aus Bücher, die ich gelesen habe“, antwortete Andrea. „Unmöglich“, wand der Bischof ein, „das sind kommunistische Ideen!“ So öffnete ein Mann der Kirche dem Jugendlichen, der sich von da an heimlich mit Marx und anderen Autoren beschäftigte, ungewollt die Augen. Nachdem dann die Alliierten 1943 auf Sizilien gelandet waren, durften auch wieder politische Parteien gegründet werden, man musste das aber genehmigen lassen. In Porto Empedocle war dafür ein gewisser Major Kevin zuständig, der als guter Amerikaner Parteien zuließ – nur keine kommunistische. Andrea sprach wieder mit dem Bischof, dieses Mal war er es, der das Gespräch gesucht hatte. „Mein Sohn, ich wusste ja, dass du Kommunist bist“, sagte der Bischof – doch versprach er Hilfe. „Denn besser du gründest in unserer Stadt solch eine Partei, als die wirklichen Kommunisten.“ Aber als dann die wirkliche KPI ihre Abgesandten schickten, war es natürlich aus mit dem Camilleri-Kommunismus. Ein paar Jahre, während seiner Studienzeit in Rom auf der Schauspielakademie, blieb er der KPI als Mitglied verbunden. Aber Zweifel ließen sich nicht lange unterdrücken. „Und so habe ich mich, noch vor der Ungarnkrise von der Partei verabschiedet. Ohne großes Aufsehen, ich bin auf Zehenspitzen gegangen, so wie ich gekommen war.“ Was aber nicht hieß, dass Camilleri bei den großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen wie den Volksabstimmungen zum Scheidungsrecht oder zur Schwangerschaftsabbruch abseits gestanden hätte. Und wenn er sich heute an der Seite des „Ulivo“, des inzwischen oppositionellen Mittelinks-Bündnisses, engagiert, so vor allem, weil er Silvio Berlusconi und dessen Forza-Italia-Bewegung ablehnt. „Mich interessiert nicht, dass Berlusconi Geld hat, aber wie er es ausgibt, das ist der Skandal!“ Berlusconi habe mit seinen Fernsehsendern „das sowieso nicht hohe Kulturniveau Italiens abgesenkt.“ Er habe die Deiche eingerissen, „mit denen die Werte geschützt waren, die sich die Italiener mühevoll erworben hatten“. Das Programm Berlusconis, von der Kultur bis zur Privatisierung des Gesundheitssystems, macht ihm Angst. Berlusconi sei das Böse, „ohne es selbst zu wissen. Man müsste die Feder eines Dostojewski haben, um das zu beschreiben. “ Bitterböse Glossen So schlecht ist Andrea Camilleris Feder allerdings nicht, dass er sich gar nicht an das Thema heranwagte. Und so hat er im Wahlkampf bitterböse Glossen in der Kulturzeitschrift MicroMega veröffentlicht. Auf der anderen Seite war ihm klar, dass er zwar mit seinen Romanen Millionen Menschen erreicht, „aber ich kann damit keine einzige Stimme bewegen, davon bin ich überzeugt“. Der „linke“ Montalbano gefällt auch vielen Lesern, die politisch auf der anderen Seite stehen. Bei der öffentlichen Wahl zum Premio Flaiano, einem Literaturpreis in Pescara, sagte eine Dame: „Ich stimme für Sie, auch wenn Sie mir mit ihren politischen Ansichten wehtun...“ Was würde passieren, wenn heute ein Justizbeamter der Berlusconi- Regierung in Vigàta auftauchte? „Dann würde Commissario Montalbano vermutlich in den Vorruhestand geschickt werden. Warum soll er nicht seine Pensionszeit genießen dürfen wie 99 Prozent der Italiener?“ Wir hoffen trotzdem, dass er noch ein paar Jahre weiterarbeiten darf. Aber warum engagiert sich eigentlich sein Autor im Pensionsalter, gibt Interviews, schreibt Artikel, bereitet neue Bücher vor? Woher gewinnt Andrea Camilleri die Kraft? „Aus der Wut über die Verhältnisse“, sagt er, hustet lachend und zündet sich eine neue Zigarette an.