Süddeutsche Zeitung 15.07.2001
Im Schatten der Zucchiniblüten
Der Krimi als Kummerkasten: Donna Leons Kommissar Brunetti und sein neunter Fall

Früher war mehr Venedig, würde Loriot sagen. Seit 1992, als Commissario Brunetti seinen ersten Fall im damals noch intakten Opernhaus La Fenice löste, hat Donna Leon, die erfolgreichste aller schreibenden Wahlvenezianerinnen, den Anteil des Lokalkolorits in ihren jährlichen Krimilieferungen auffällig reduziert. Vermutlich kann sie längst voraussetzen, dass ihre italophile Fangemeinde, die großenteils in Deutschland zu Hause ist, die Geräusche und Gerüche der Lagunenstadt selbst in sich aufruft, während sie den grübelnden Guido bei seinen Ermittlungsgängen und Espressotouren begleitet. Dem typischen Leon-Leser, der hinreichend gebildet, mobil und bemittelt ist, um Venedig abseits touristischer Trampelpfade zu erkunden, gefällt es ja besonders, das tausendfach als Kitschkulisse missbrauchte Traumziel als „ganz normale“ italienische Stadt mit anheimelnden Alltagsritualen und interessanten Schattenseiten zu betrachten. Diesem Bedürfnis kommt die Amerikanerin mit einer Routine entgegen, die ihr immer mehr Raum lässt für ein dringenderes Anliegen: die Kundgabe moralischer Überzeugungen, politischer Desillusionierung und mild resignativer Zeitkritik im Gewand des Kriminalromans. Von der Mixtur aus Spannung, Urlaubsreminiszenzen und Gewissenspflege, die beim deutschen Publikum so gut ankommt, profitiert inzwischen eine ganze Reihe von Autoren, darunter neben Donna Leon der Schwede Henning Mankell und der Sizilianer Andrea Camilleri. Kommissar Brunetti besitzt gegenüber seinen Kollegen Wallander und Montalbano aber nicht nur den attraktiveren Arbeitsplatz, sondern ist auch der Polizist, mit dem Frauen am liebsten essen gehen würden, sofern er nicht gerade die Kochkünste seiner vielseitigen Gattin Paola goutiert. Zu Beginn des neuen Romans „Feine Freunde“ ist sie unterwegs, um frische Krabben zu besorgen, während ihr „investigator doctus “ sich in froher Erwartung mit Xenophons „Anabasis“ auf dem Sofa lümmelt: ein samstägliches Ehe-Idyll, das die Wünsche der hedonistisch gestimmten akademischen Mittelschicht heiter bedient. Statt jedoch den häuslichen Frieden als Kontrast zur verderbten Welt genussvoll auszumalen, kommt Donna Leon, Spezialistin für Korruption, Bürokratismus und andere Schönheitsfehler des italienischen Gemeinwesens, ernüchternd rasch zum Thema. An der Tür klingelt ein Abgesandter des Katasteramtes, der den Hausherrn in einem langen, mit kafkaesker Komik kokettierenden Dialog darüber unterrichtet, dass seine Eigentumswohnung aus amtlicher Sicht „nicht existiert“. Die Eröffnung, unwissende Käufer müssten für Schwarzbauten nachträglich Strafe zahlen und mitunter gar die Demontage ihres Domizils hinnehmen, bringt vorübergehend Unruhe ins Familienleben, auch Meinungsverschiedenheiten mit Paola, die nichts dabei findet, mit Hilfe ihres adeligen Vaters das Damoklesschwert auf dem Bestechungsweg zu entschärfen. Dann aber trifft die Abrissbirne des Schicksals nicht Brunetti, sondern den netten Katasterbeamten Rossi, der den Sturz von einem Baugerüst im Sestiere Dorsoduro nicht überlebt. Für Brunetti ist es mehr als Ehrensache, den Fall aufzuklären. Die erste Spur führt zu einem ermordeten Anwalt in Ferrara, die zweite in die Niederungen der Drogenszene, in der pikanterweise der Sohn von Vice- Questore Patta, Brunettis arrogantem Chef, kein Unbekannter ist. Die dritte Fährte verliert sich im Geldverleihermilieu, das hier beinahe folkloristische Züge trägt, aber deshalb nicht weniger gnadenlos funktioniert. Nach bewährtem Muster kämpft sich der gute Mensch von Venedig durch einen Dschungel aus Lüge und Vertuschung, Opportunismus und Privilegien, mafiosen Praktiken und kaltblütigen Gewalttaten, und nur die verlässliche Geborgenheit der Privatsphäre hält ihn davon ab, an seiner Stadt, seinem Land und seiner Spezies zu verzweifeln. Er nimmt sich fremdes Elend zu Herzen, macht sich Gedanken über das Laster der Habgier und registriert mit dem Detailblick des Melancholikers das Verschwinden traditioneller Requisiten aus dem Stadtbild, in diesem Fall der kleinen roten Schleppdampfer, die ihren angestammten Platz an der Riva degli Schiavoni für andere, dem Tourismus nützlichere Wasserfahrzeuge räumen mussten. Ausgeprägter als in ihren früheren Büchern macht Donna Leon diesmal von der Freiheit Gebrauch, Handlungsfäden in der Luft hängen und dramatische Konstellationen im Nebel der Ungewissheit zerfließen zu lassen. Das entspricht einerseits venezianischer Mentalität und spiegelt andererseits die Erfahrung, dass es sinnlos ist, im Sumpf des Zusammenspiels von Geld, Politik und Verbrechen nach Logik, Gerechtigkeit und sauberen Problemlösungen zu suchen - eine weltweit grassierende Einsicht, die sich naturgemäß auch auf die Konstruktion zeitgenössischer Kriminalromane auswirkt. Der Täter, den Brunetti am Ende dingfest macht, ist unzurechnungsfähig und steht „unter dem Schutz des Staates“, die eigentlichen Schuldigen kommen ungeschoren davon. Donna Leon vertritt nicht mehr die Position der Justitia, die das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse auf fiktionaler Ebene repariert, indem sie jedem zuteilt, was er verdient.Die Balance, die sie herstellt, ist bescheidener: Was ihrer Generation im wirklichen Leben an moralischen Maßstäben und menschlichen Werten abhanden zu kommen droht, versucht sie in der sympathischen Sisyphos-Figur des Guido Brunetti zu bewahren. Der Modernitätsverweigerer, der sogar das Tragen eines Mobiltelefons „aus einem maschinenstürmerischen Vorurteil heraus“ ablehnt, steht wie viele seiner Kollegen für jene stille und beharrliche Subversion, die dem Gesetzeshüter in der Literatur eine ganz neue Rolle zuwachsen und das Krimigenre zu einem Forum werden lässt, auf dem vor großem Publikum der Verlust politischer Utopien beklagt werden kann. „Wir haben uns jahrzehntelang zum Narren halten lassen und selbst zum Narren gehalten“, schimpft Paola, die rebellische Gefährtin, „wir mit unseren Hoffnungen auf eine bessere Gesellschaft, unserem idiotischen Glauben daran, dass dieses ekelhafte politische System und diese ekelhaften Politiker unser Land einmal in ein goldenes Paradies verwandeln könnten, regiert von Philosophenkönigen in endloser Folge.“ Jetzt glauben wir nur noch an den Seelentrost, den ein Risotto mit Krabben und Zucchiniblüten spendet. Und daran, dass im nächsten Jahr Brunettis zehnter Fall auf Deutsch erscheint.
KRISTINA MAIDT-ZINKE